Poetry-Slam-Texte
antichronologisch sortiert
Blogbeitrag vom 10. November 2018
Triggerwarnung: Dieser Beitrag behandelt das Trauma der sexualisierten Gewalt, der Zerrissenheit und der Heilung durch das Mitgefühl anderer Menschen.
„Das Lachen ist ein Pfennig – zum Trauma der sexualisierten Gewalt“
Auftritt, 10. November 2018, Open Stage in Franz Mehlhose Erfurt
Es wird gesagt und darüber gesprochen. In vielen Artikeln kann man es lesen. Leg deine Vergangenheit ab. Lebe heiter, lebe froh. Jetzt lebe so. Leb dein Leben. Lass dich von deinen Träumen nicht berauben und beschütz deinen Mut, daran zu glauben, deinen Weg zu gehen, diesen frei zu fegen von allem Mist, der auf diesem Weg noch zugegen ist.
Vergangenheit ist Zukunft, ist Gegenwart und Jetzt. Sie ist in einem Leben und zugegen.
Was ist, wenn du deine Freude an dein Leben einem anderen Menschen solltest übergeben? Wenn man dich mit einem Fingerschnipp entfernt von deinem Wert und allen Lebenstipps, von all deinen Träumen dich beraubt und du nun fern auf dein Leben schaust?
Wenn deine Freude als Glasscherbenspiel klingt und der Vogelchor von nun an als erstarrter Ton vom Baum für dich singt, dann ist dein Lachen ein Pfennig geworden. Es liegt verschlossen und verhüllt, verborgen, geborgen und geschützt in deiner Hand.
Wenn deine Wurzeln einmal brechen, kannst du sie nicht einfach zusammenrechen. Dann siehst du zu, wie andere Menschen Lebenstipps befolgen, Freudenträume und auch Misserfolge leben, während du versuchst, im Scherbenhaufen zu überleben. Versuchst, dich zu finden, zu vertrauen, die Knospen wieder schleichend zu erreichen, versuchst zu lesen, zu verstehen, dich besonders zu sehen, während von den Seiten Ratschläge auf dich frachten, musst du das Dunkel betrachten.
Du fegst und fegst und suchst nach deinem Leben und siehst, wie andere ihre Träume erleben. Während auch Sorgen sie umgeben, können sie sich in Umarmungen benehmen, können unbeschwert sein und lachen, weil sie zugegen sind im Leben und Freude leben, weil jemand Freude hatte, ein Lachen in der Zeit an sie weiterzugeben.
Dein Lachen ist ein Pfennig geworden. Es liegt eingehüllt, verschlossen, verborgen, geborgen und geschützt in deiner Hand.
Während man dein „Nein“ küsst, weißt du, dass diese Umarmung ein Riss in deinem Leben ist. Von nun an deine Freude als Glasscherbenspiel klingt und der Vogelchor als erstarrter Ton vom Baum für dich singt.
Dein Lachen ist ein Pfennig, sein Wert verhüllt, verborgen, geborgen, verschlossen in der geschlossenen Hand. Du stehst dabei weder in der Ecke noch in der Mitte deines Lebens. Du schwebst am Rand. Du fegst und fegst, während drumherum die Menschen in ihre Lebensträume entschwinden. Versuchst du schleichend im Scherbenhaufen, deine Freude und die Liebe zum Leben wiederzufinden. Du weißt, dass Träume zu leben sind. Du kapierst es und hörst, wie sie zugegen und einzig wertvoll zu leben für andere Menschen sind. Du akzeptierst, du respektierst, während dein Lachen in einem Hauch weggepustet wurde mit dem Wind.
Leb dein Leben. Lebe heiter, lebe froh. Jetzt lebe so!
Dein Lachen ist ein Pfennig. Es liegt verborgen, geborgen und geschützt in deiner Hand.
Was nun, was tun? Dabei sein im Leben, weiter Ratschläge kaufen. Lebe heiter, lebe froh. Jetzt lebe so (im Scherbenhaufen).
Wenn man nur noch einen Pfennig hat, kann man ihn nicht von sich geben. Man schwebt am Rand, man steht auch mal und viel zu oft daneben.
Und öffnet man die Hand, der Pfennig klirrt zu Boden. In dem Moment braucht man Freunde, die applaudieren und einen für diesen Mut loben. Freunde, die sich im Dunkeln mit dir erquicken, während dich leere Hände und dunkle Scherben anblicken, die einen halten, Fragen stellen und einen einen Raum lang durch die Gegend tragen, die Blumen pflücken, dich beschenken, Tee kochen, ... helfen, den Scherbenhaufen bunt zu bepflastern und neu zu bestücken.
Die nicht erwarten, auch nicht auf Raten. Pfennige, die sie gaben als Lohn, zurückzuhaben. Die einfach die Freude und die Liebe aus ihrem Leben in deine geschlossene Hand legen.
Wenn es springt und klingt und plumpst auf deinem Wegen, dann weißt du, dass Pfennig und Pfennige sich mehren.
Auf Substanz kann man alles bauen.
Wenn Pfennige nicht mehr in die Hände passen, dann kannst du wieder versuchen, dich auf den Bestand des Pflasterweges zu verlassen. Dann kannst du voller Stolz trällernd mit einem Liedchen auf den Lippen laufen durch die Gassen.
Der Vogel schwirrt zur Butterblume, der Wind bestäubt mit neuen Samen deinen Weg. Der Vogelchor, er räkelt sich, er gähnt. Ein Zwischenton erklingt, der von der Freude singt.
Das Lachen ist kein Pfennig mehr, wenn Menschen Liebe in geschlossene Hände legen. Denn dann kannst du dich, wenn auch unbeholfen, in Umarmungen benehmen.
Während du fegst und dich das Leben wieder dabei küsst, siehst du, schmunzelnd, wie der Mistkäfer wie Pac Men erheitert eine und noch eine und noch eine Scherbe in der Lücke auf den Pflastern frisst.
Vergangenheit ist Zukunft, ist Gegenwart und Jetzt. Sie ist in einem Leben und zugegen.
Das Lachen ist kein Pfennig mehr, wenn Menschen ohne Lohn und ohne Raten zu erwarten Freude in geschlossene Hände legen.
Wenn Pfennig und Pfennige sich mehren, dann kann man es hören, das Springen und das Plumpsen auf den Pflasterwegen und sehen, wie offene Hände fortan neue geschlossene beschweren.
Geschrieben von Ulrike Tabor (Riike)
Erste Fassung, 27. Oktober 2018
Blogbeitrag aus dem Jahr 2014
„Meine Heimat - Ein Bilderbuch
Erinnerungen an die Kindheit in der DDR
Meine Heimat ist ein Blumenbeet, auf der der Wind vom Westen weht.
Meine Heimat ist ein Pflasterweg, auf dem ein Schild „Betreten verboten“ steht.
Meine Heimat ist ein braches Land, Schutt und Asche war hier einst eine graue Wand.
Meine Heimat, das ist ein Hauseingang mit einer buntgemalten Zahl,
dessen Schlüssel man mir gab und wieder stahl.
Meine Heimat ist verschwunden, mit ihr hab ich die Kindheit überwunden.
Meine Heimat, das sind Lieder, die den Frieden besingen,nicht wissend, dass woanders die Kriege beginnen.
Meine Heimat, das ist der Marsch mit einer blauen Fahne,deren Bild der weißen Friedenstaube ich voller Stolz in der Menge in die Höhe trage.
Meine Heimat, das ist ein Appell: „Seid bereit, immer bereit!“und auf dem Rummel das Kettenkarussell.
Meine Heimat ist eine riesige Geschichtenzuckertüte,mit Süßigkeiten gefüllt, die ich wie einen Augapfel hüte.
Meine Heimat, das ist die Hexe Babajaga und die Flimmerstunde, meine Heimat, das sind Kastanienblätter und Schwalben in der Heimatkunde.
In meiner Heimat erzählt mir Vati von dem Leben in der Kaserne,meine Heimat ist die Fibel und das ABC,das ich in der ersten Klasse in schönster Schreibschrift erlerne.
In meiner Heimat schaue ich auf die Märchentapete in meinem Kinderzimmer,die kleine Hex kommt immer früh um sechs,und dass man das Wort „Neger“ nicht sagt, davon habe ich keinen blassen Schimmer.
In meiner Heimat schaufel ich durch ein kleines Fenster Kohlen in den Keller,im Frühling pflanze ich mit Mutti Krokusse um einem Baumund ess’ die Teewurststulle immer vom gleichen Teller.
In meiner Heimat male ich auf der Straße Kästchen mit Kreide, ich werfe Steinchen und hüpfe,in meiner Heimat trägt mein Bummibär ein Taschentuch als Kopftuch und schaut zu, wie ich mich zum Fasching als Katze verkleide.
In meiner Heimat höre ich heimlich unter der Bettdecke die Musikkassette, in den Büchern laufen Angsthase und der kleine Ulli und Hase und Igel um die Wette.
In meiner Heimat renne ich mit den Nachbarskindern durch das ganze Haus,wir klingeln an jeder Tür, wir panschen im Hof im Matschund räumen auf dem Dachboden die Wäschekörbe aus.
In meiner Heimat laufe ich unentwegt ins Versteck,ich zerstör’ das doppelte E und die russischen Kinder nebenan sagen zu uns immer nur „nijet“.
In meiner Heimat spiele ich am Stromhäuschen mit anderen Kindern Länderklauen,wir werfen uns Stöcke zu,ich erobere die Sowjetunion und meine Schwester und ich wollen jeden Tag Bude bauen.
In meiner Heimat springe ich von der weißen dritten Stufe des Klettergerüsts,meine Freundin und ich hängen in der Affenschaukel und mein bester Kumpel zeigt mir in einem Buch, wie man sich küsst.
In meiner Heimat kriechen wir zum Besuch der Nachbarn unter Zäune,bevor wir zum Essen hochgerufen werden, klettern wir noch auf die höchsten Bäume.
In meiner Heimat radel ich mit Vati zum Baggersee,wir bauen Kleckerburgen aus Sand, essen Äpfel und trinken lauwarmen Hagebuttentee.
In meiner Heimat füllt man mir Sirup und Wasser in eine Plasteflasche mit blauem Deckel für den Wandertag,in meiner Heimat verlasse ich in der zweiten Klasse für eine sechswöchige Kur Familie und Freunde und da zählt es nicht, dass ich Kohlrabi nicht mag.
In meiner Heimat stapel ich auf dem Schulweg Regenwürmer zusammen mit Lena,in der dritten Klasse bekomme ich den ersten Leichtathletiktrainer.
In meiner Heimat bastel ich im Musikunterricht Kraniche für Hiroshima,beim Singen übertrete ich die vorgezeichnete Linie auf dem Boden zum Ärger der Lehrerin immer und immer wieder.
In meiner Heimat laufe ich über Hürden im Sport,ich mach mit, ich mach’s nach, ich mach’s besser,auch wenn ich es nicht mag, schickt man mich bis zur vierten Klasse in den Hort.
In meiner Heimat gehe ich mit meinen Kameraden von Tür zu Tür,für den Klassensieg sammeln wir leere Flaschen und Altpapier.
In meiner Heimat bewerfen wir uns in der Schule mit Erbsen in der Mittagspause,in meiner Heimat kaufe ich mir mit fünf Pfenningen ein Waffelblatt mit einer Kugel Eis und rolle dann mit meinem grünen Roller an der Kaufhalle entlang allein nach Hause.
In meiner Heimat wird fleißig in mein Muttiheft notiert,ich trinke Schokomilch aus Flaschen mit Aluminiumdeckeln und bin von der Auswahl zwischen Erdbeer- und Vanillegeschmack irritiert.
In meiner Heimat packe ich meinen Ranzen,in meiner Heimat kann ich auf Festen mit allen Annemarie Polka tanzen.
In meiner Heimat habe ich in Ordnung und Betragen eine zwei,ich verliebe mich in Ferdinand, Achim und Kunibert und wünsche sie mir in meinen tiefsten Träumen herbei.
In meiner Heimat drücke ich mit meinem Finger den Fernseher an,ich starre aufs Testbild,und eine Fliege läuft über die farbigen Kästchen auf der Glasscheibe entlang.
In meiner Heimat wird mit der Sense das Gras abgeschlagen,mit Opa füttere ich die Kaninchen, die am trockenen Mischbrot nagen.
In meiner Heimat gehe ich in den Tierpark und in die Tropfsteinhöhle,in meiner Heimat sammle ich Eicheln und gebe sie dem Förster und passe auf, dass ich die Rehe beim Mittagschlaf nicht störe.
In meiner Heimat fahre ich zu Oma im Trabant, um Kalten Hund zu essen,in meiner Heimat hat den Besuch kein Telefon vergessen.
Meine Heimat, das sind frische Pilze aus dem Wald an der Baumwollschnur,neben der Holzvertäfelung steht auf den Regalen das Kompott für Sonntag auf dem Flur.
Meine Heimat, das sind die Küken meiner Tante,wie sie unter roten Lampen kuscheln und quieckend über die anderen tuscheln.
Meine Heimat, das ist die Wiener vom Fleischer und das Brötchen vom Bäcker,meine Heimat ist die Kuckucksuhr als Wecker.
Meine Heimat ist das Reisen durch das eigene Land,der Sandkasten ist die Muschel am Meeresstrand.
Meine Heimat wurde mir entzogen,die weiße Friedenstaube ist weggeflogen.
Das Kapitel wurde zugeschlagen.
Meine Heimat ist ein Bilderbuch,dorthin geh’ ich manchmal zu Besuch.
Geschrieben von Ulrike Tabor (Riike)
Erste Fassung, 2014
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